Erinnerungen aus dem Tagebuch 1923 der Maria-Louise Poschacher, eine Selbst-Charakteristik, Abgeschrieben vom Original von Monilies Stelzel, geb. v. Ernst, Nichte der Maria-Louise Poschacher im Jahr 1994
Sehr geehrter Herr Doktor!
Sie sagten neulich, als ich wieder in Ihrer Ordination auftauchte, meine Schrift spiegle die Überlastung einer Seele mit Eindrücken, die sie nicht verdaut habe. Es ist klar und dies scheint ja auch der Zweck Ihrer Anordnungen und Ratschläge, dass ich nun viel über Ihre Worte nachdenke und wie in einem Archiv mein Leben nach allen Richtungen durchblättere. Aber ebenso, wie man eine Lade alter Briefe, die man durchstöbert, nicht mehr schließen kann, weil sich die Schriftstücke blähen und an Volumen zunehmen, ebenso ergeht es mir mit der Fülle meiner Erinnerungen und ich habe heute gerade das Gefühl, dass sie sich um mich türmen und mich erdrücken wollen, da deucht mich, dass Sie doch noch, weil zu wenig, von mir wissen. Ich habe verlernt, zu anderen von meinen innersten Erlebnissen zu sprechen, und wenn ich in Ihrer Sprechstunde sitze, verliere ich den Faden und erzähle eigentlich nie das, was ich mir vorgenommen habe. Dies drückt mich dann schwer und ich verbringe dann Stunden der Nacht in Gedanken an das, was ich eigentlich hätte sagenwollen. Es ist mir ein Bedürfnis, dies heute einmal aufzuschreiben und ich tue es, noch mehr aus dem Gefühl heraus, selbst Ordnung in mir zu schaffen. Vor allem hätte ich Ihnen gerne von dem Milieu meiner Kindheit und Jugend erzählt, weil es dem heutigen so fremd ist, und weil man es sich nach den Ereignissen des Weltkrieges und nach der sozialen Wandlung aller Gesellschaftsschichten gar nicht mehr vorstellen kann.
Wir entstammen einer sehr alten Familie und 5 Generationen hausen bereits in dem Heim, das nunmehr meinem Bruder gehört und in welchem wir seit dem Tod meines Vaters uns noch immer schon als sein Gast gefühlt haben. Mein Vater zählte zu den ersten Großindustriellen Oberösterreichs, er war Präsident des Wiener Trabrennvereins und in allen Kreisen beliebt und geachtet. Er hatte den Betrieb der Granitwerke durch lebenslangen Fleiß und Arbeit von den kleinen Anfängen zu Großvaters und Urgroßvaters Zeiten zu einer bemerkenswerten Größe erweitert und hing unendlich an seinem Lebenswerk. Nur so ist es zu verstehen, dass er bei der Geburt meines Bruders ein Testament machte, dass diesen zum Universalerben einsetzte, um das Vermögen möglichst in einer Hand und vor unvorhergesehenen Ereignissen geschützt zu wissen.
Meine Schwester und ich bekamen in Papieren den Pflichtteil, was für die damaligen Zeiten immer noch ein großes Vermögen bedeutete und waren vollständig in dem Geist der Tradition erzogen, so dass diese Tatsache als ganz selbstverständlich erschien und trotzdem haben wir unser ganzes Leben daran gelitten, dass wir in unserem Vaterhaus nur mehr zu Gast waren. Meine Mutter hatte durch den plötzlichen Tod meines Vaters, der in der Donau verunglückte, als er abends nach seinem Dampfer sehen wollte und der dann 2 Tage nicht gefunden wurde, eigentlich nur mehr für meinen Bruder und für Vaters Lebenswerk gelebt und seine Majoratsgedanken bis zum Extrem geführt.
Wir waren damals in dem zartesten Jugendalter und haben unter dieser stetigen Bevorzugung unseres jüngeren Bruders schwer gelitten, obwohl wir ihn ebenfalls vergötterten, aber wir hätten eine weiche Mutterhand so nötig gehabt. 2 Jahre haben wir dann auf dem Landsitz ganz zurückgezogen gelebt und damals und auch später waren wir vollständig über das Werk unterrichtet und haben all die kaufmännischen Sorgen, die ein Betrieb von 2000 Arbeitern mit sich bringt, redlich mitgetragen. Dass diese oft recht düsteren Wolken, die Gottlob meist vorübergingen, das Gemüt von jungen Dingern belasten muss, wenn gewiegte Geschäftsleute darunter leiden, ist nicht zu verwundern. Dann wurden wir in die Welt eingeführt.
Wir haben durch Jahre, bis beinahe zum Krieg, ein großes Haus geführt, in Wien lebten wir meist die Wintermonate, gaben große Gesellschaften bis zu 80 Personen, besuchten Theater und Konzerte und lebten eben das damalige mondäne Leben unserer Kreise. Das es uns befriedigt hätte, kann ich nicht behaupten, wir nahmen es als etwas Unabänderliches gegeben hin. Wären wir oberflächlich genug gewesen, hätte es uns nicht geschadet. So suchten wir immer irgendwo nach einem tieferen Gehalt und stopften in unsere mit gesellschaftlichen Verpflichtungen gefüllte Tage alle möglichen Studien, deren Ausübung wir schwer erkauften. So oft wir auch eine Nacht durchgetanzt hatten, wir waren des morgens um 9 in unseren Stunden. Französisch beherrschte ich seit meiner Kindheit wie das Deutsch, weniger gut Englisch. Wir betrieben Italienisch, Kunstgeschichte, lernten doppelte Buchhaltung, schulten unsere Stimme, vor allem stahl ich mir die Zeit für die Malerei und gab das Clavierspiel auf, das ich seit meiner Kindheit betrieben hatte und in welchem ich es eigentlich zu einer hübschen Geläufigkeit gebracht hatte. Selbstredend hatten wir meist in den Sommermonaten Kochen, Schneidern, Weißnähen gelernt und ich bin meiner Mutter noch heute dankbar, dass wir überall anfassen mussten und uns eine gründliche Kenntnis eines Hauswesens aneigneten, denn ich würde mir heute, wenn die Notwendigkeit an mich herantrete, jeden größeren Haushalt zu führen getrauen.
Ich kenne Schweden, Dänemark, Holland sogar vorzüglich. Deutschland und Österreich, Ungarn, Dalmatien, Bosnien natürlich ganz genau. In Italien haben wir 3 Monate lang gründlich alle Kunstdenkmäler studiert. Während des Krieges war ich drei Jahre in Bulgarien, von dort aus in Konstantinopel. Ich kenne aber auch die Küsten des Mittelmeeres und viele Inseln, Korfu, Korsika, Malta, Tunis, Tanger, Algier, die Canarischen Inseln und Madeira.
Uns alle diese Reisen habe ich mit offenen Augen unternommen, wie ein Schwamm mich mit Eindrücken vollgesogen, immer mit den Augen des Malers das Land, die Kunststätten, Sonnenuntergang und die Natureindrücke beobachtet, währen der Schriftsteller in mir die Menschen, die Sitten und Gebräuche, die Charaktere verfolgt und sie fein säuberlich einordnete, um sie gegebenenfalls wieder zur Hand zu haben.
Auch sonst war mein Leben reich an besonderen Ereignissen: Ich habe daheim mehrere katastrophale Überschwemmungen erlebt. Ich habe bei mehreren Bränden tüchtig löschen geholfen. Ein Erdbeben, das dem von Messina nicht viel nachstand hat uns in Sofia ereilt und nur deshalb weniger Schaden angerichtet, weil die Bauweise da eine andere ist- Auch in die Eruption des Vesuvs 1906 sind wir hineingeraten, anlässlich einer Mittelneerfahrt als Neapel einen ½ Meter in Asche eingebettet lag und von einer Atmosphäre umgeben war, in der man fast nicht atmen konnte.
Die Kriegsereignisse, Fliegerangriffe, Bolschewikenschlacht vor den Türen Sofias, Flucht nach dem bulgarischen Umsturz rechne ich gar nicht.
Wenn ich mich in Details verlieren wollte, müsste ich Bände schreiben, denn jedes dieser Dinge füllt ein Kapitel für sich. Aber nicht nur in dieser Beziehung war mein Leben wechselreich. Es hat sich auch durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch bewegt. Was sind nicht alles für Menschen an mir vorüber gegangen. Während wir in industriellen Kreisen verkehrten und am Land die Provinzler studieren konnten, habe ich in Sofia Gelegenheit gehabt, die gesandtschaftlichen Kreise, die hohen Militärs kennen zu lernen, Professorenfamilien.
Jetzt nach dem Zusammenbruch bin ich 3x mit Kinderzügen in Holland gewesen und habe dadurch dort Einblicke in die diversen Gesellschaftskreise gewonnen und hier nun seit 5 Jahren die Künstlerkreise. Und merkwürdig, ich finde mich überall zurecht und eigentlich bin ich überall sofort zu Hause. Dies ist vielleicht der Ausgleich, weil ich daheim nie eine richtige Gemütlichkeit habe. Immer ist es mein Zimmer, das zu irgend etwas in Anspruch genommen wird.
Mein Lebenslauf hat sich auch in großen Gegensätzen bewegt. Ich habe Nächte in den elegantesten Ballsälen verbracht und ich habe hunderte von Nachtwachen am Bett von Verwundeten, Schwerkranken gesessen, ihre fiebernden Hände in meiner und habe Zeit gehabt über das Elend der Welt nachzudenken. Ich bin einer Königin gegenüber im Auto gesessen, habe im bulgarischen Hofzuge<sic> und oft im Waggon Lits <sic> geschlafen und habe jetzt nach dem Umsturz viele Nachtreisen im Personenzug III Classe zurückgelegt.
Es hat Zeiten gegeben, wo ich hier in München 500 Mark im Monat ausgeben konnte, und es hat Zeiten gegeben, wo ich mir jedes Stück Kohle und jede Trammbahn<sic> überlegt habe, weil ich von dem lebte, was ich mir verdiente.
Es wäre undankbar zu sagen, dass mein Leben nicht viel Schönes und Interessantes zu verzeichnen hat und meist fällt mir dieses ein und nicht das viele Leid, das doch stets irgendwie dahinter stand, denn wenn ich tiefer in meinen Erinnerungen schürfe, dann war der Grund einer dieser vielen Reisen meist irgend etwas, über das man hinwegkommen wollte, oder ein Leiden, das man zu bessern suchte.
Dass die Aufregungen um meinen einzigen Bruder während des Krieges auch viel von meinen Nerven gekostet haben. <sic> Aber durch alle meine Tage hat sich die Sehnsucht nach der ausübenden Kunst geschlungen. Es wäre vielleicht klüger gewesen, das kaufmännische Talent auszuschrotten <?>. Stenographie, Schreibmaschine hätte ich nur besser zu üben gebraucht und ich hätte sicher eine Sekretärstelle mit meinen Sprachkenntnissen gefunden.
Nachwort von Monika Stelzel (geb. Ernst) – Nichte
Hier bricht der „Brief“ ab, unvollendet. An welchen Herrn „Doktor“, war dieser ein Nervenarzt in München, den sie consultierte, war es der Dr. Xaver Mayer, Gallenspezialist in Karlsbad, der sie und auch ihre Mutter immer wieder behandelt hat? Wann? Warum?
Ist es eine Niederschrift für einen tatsächlich abgeschickten Brief, oder wurde dieser nie wirklich geschrieben? – Fragen über Fragen.
Ich fand diese Niederschrift in einem sehr unvollständig geführten Tagebuch, auf dessen erster Seite einer ihrer vielen seelischen Ergüsse nach einem Traum notiert sind. Auf der zweiten Seite das Datum: München 9. November 1923 mit politischen Bemerkungen über ein Auftreten Hitlers in einer nationalen Versammlung von Ludendorf und Kahr.
Ein paar Blätter weiter: Florenz, Mittwoch zz Gimignano 6 Mai 1925, Siena 8 Mai und dann die folgenden Seiten mit Berichten: 1945 Mai in Prag in der Mitte oben, im Eck zusätzlich 1942.
Jedenfalls gibt diese Niederschrift für die Nachwelt ein gutes Bild der Zeit ab 1900 und macht begreiflich, dass Maria Louise Poschacher mit ihrem starken emotionellen Auf und Ab, mit ihren immer wiederkehrenden Magen- und Gallenproblemen, letztlich nach der großen Euphorie und Arbeitsüberlastung ihrer großen Ostasienreise zusammenbrach und das Opfer der heimtückischen Krankheit einer multiplen Sklerose wurde, die sie dann über 30 Jahre an den Rollstuhl fesselte.
Gereift durch all ihre Erlebnisse wurde sie der Mittelpunkt der Familie und ein beglückender Hort für ihre Nichten und Großnichten, denen sie mit ihrem Verständnis für die Jugend, ihren künstlerischen Talenten, mit Spielen (Halma, Frage- und Ratespiele, Ma-Jong und auch Schach) und dem Modellieren und Tonarbeiten in dankbarer Erinnerung bleibt.
- März 1994, ihre Nichte Monilies Stelzel-Ernst